Zweimal Oettingen
Oettingen, 06. Juni 1944. Julius Meimberg beim Appell vor dem Abflug der II./JG 53 an die Invasionsfront.
Als am frühen Morgen des 06. Juni 1944 das Telefon auf dem Gefechtsstand der II./JG 53 im schwäbischen Oettingen schrillte und deren Kommandeur persönlich am Apparat verlangt wurde, bekam der 27jährige Major nur drei Worte zu hören: Doktor Gustav West. Er wußte sofort, was das bedeutete: Die Alliierten waren in der Normandie gelandet. Seine Befehle für diesen Fall hatte er einem versiegelten Briefumschlag zu entnehmen, der ihm ein paar Tage zuvor von einem Offizier des Führerhauptquartiers ausgehändigt worden war.
Der Major hatte mit den fliegenden Teilen seiner Jagdgruppe unverzüglich von Oettingen über Le Mans ins bretonische Vannes zu verlegen; für alles andere landeten in den nächsten Stunden zehn Ju 52 auf dem Platz, um ihm – vollgepackt mit Bodenpersonal und Gerät – zu folgen. Er ließ die 50, 60 Flugzeugführer seiner vier Staffeln sofort im Karrée vor der Kommandantur des Einsatzhafens antreten, orientierte sie kurz und befahl wegzutreten, damit jeder von ihnen an persönlichen Habseligkeiten packen konnte, was sich in seiner Me 109 verstauen ließ. Leutnant Karl Paashaus, der Kapitän seiner 5. Staffel, fand noch Zeit für einige Zeilen nach Hause: „Liebe Eltern, heute kam die Invasion und damit für uns der schwerste Kampf, den wir zu bestehen haben werden… Ich schreibe Euch noch in Eile diesen Brief, da Ihr sicher in nächster Zeit nichts mehr von mir hören werdet. Wenn ich fallen sollte – ich glaube, das als sicher anzunehmen –, dann wißt ihr ja, daß ich als anständiger Soldat an der Spitze meiner geliebten Staffel gefallen bin. In herzlicher Liebe Euer Junge.“ Kurz darauf dröhnte der Himmel über dem Rollfeld vom Fortissimo der abfliegenden Messerschmitts.
Drei Wochen später waren von der Jagdgruppe nurmehr 18 Piloten und neun Maschinen übrig, unter ihnen der 23jährige Karl Paashaus. Er lebte noch einen weiteren Monat; dann wurde er am Fallschirm erschossen. –
Sonntag, 18. Mai 2008. Wieder steht der Kommandeur der II./JG 53 auf dem Rollfeld des Einsatzhafens Oettingen, neben sich den Kapitän seiner damaligen 4. Staffel. Es schüttet aus Kübeln, aber Julius Meimberg und Günter Seeger verkriechen sich nicht unter Regenschirmen wie die hunderte Zuhörer vor ihnen, sondern stehen in den vorübertreibenden Schauerfahnen so aufrecht, wie es ihre neun Lebensjahrzehnte eben zulassen. Julius Meimberg macht es kurz, er will den frierenden und durchnäßten Menschen nicht zuviel zumuten, nachdem die Lokalpolitiker zu Wort gekommen sind, der Pfarrer das Denkmal hinter ihm gesegnet hat und der Generalmajor Reichardt vom Heer viel Kluges und Nachdenkenswertes über den Umgang der Deutschen mit ihrer Geschichte bemerkte.
Oettingen, 18. Mai 2008. Julius Meimberg (links) und Günter Seeger weihen das Denkmal auf dem ehemaligen Einsatzhafen ein.
Julius Meimberg sagt, daß der Krieg niemals die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln sein kann, sondern stets die Bankrotterklärung einer Politik bedeutet. Er sagt, daß er den Namen Gottes auf einem Koppelschloß für eine Gotteslästerung hält: „Gott mit uns’ hieß es einst auf preußischen Uniformteilen. Und wenn heute selbsternannte Gotteskrieger als lebende Bomben Unschuldige töteten, solle man sich dadurch nicht zum Haß auf ganze Religionen und Völker verleiten lassen – Pauschalurteile seien immer der Anfang vom Ende der Menschlichkeit gewesen. Er spricht über die Menschen, die unter seinem Befehl oder im Feuer seiner Waffen fielen. Über die Trauer, die dadurch in so viele Familien getragen wurde. Über die enorme Verantwortung, die auch heute jeder trägt, der Soldaten in den Kampf schickt. Er hat sorgfältig durchdacht, was er hier und heute sagen will. Aber nun ist er ein wenig verlegen angesichts der Reden, die vor ihm gehalten wurden und denen er rhetorisch kein weiteres Glanzstück anfügen kann und auch nicht will, denn er hat das alles selbst erlebt, worüber Nachgeborene hier bereits gesprochen haben – und weil er es selbst erlebt hat, weiß er, daß es keine Worte dafür gibt.
Denkmal, sagt er zum Schluß: in diesem Wort verberge sich eine Aufforderung zum Nachdenken. Sehr erstaunt sei er gewesen, als ihm vor einiger Zeit Werner Paa aus Oettingen einen Brief geschrieben habe: Paa und einige Nachdenkliche hatten dort auf dem Areal des längst umgepflügten und vergessenen Einsatzhafens dessen letzte Trümmer gefunden. Nun seien die Soldaten- und Reservistenkameradschaft der Region, engagierte Bürger und Werner Paa auf den Gedanken gekommen, aus diesen Fragmenten ein Mahnmal für die Opfer von Gewalt, Krieg und Vertreibung zu errichten. Erst dadurch habe er erfahren, daß auf dem Flugplatz auch alliierte Soldaten und Zivilisten ums Leben gekommen seien, lange nachdem er mit der II./JG 53 von dort an die Invasionsfront gestartet war, und daß in einem nahen Gefangenenlager sowjetische Soldaten an den Folgen von Hunger und Mißhandlungen starben. Danach hatten sich die Baracken mit 30.000 Flüchtlingen aus dem Sudetenland und Rumänien gefüllt.
Der Wiener Kunstgießer und Bildhauer Berthold Kretschmer, ein gebürtiger Oettinger, hatte aus den Eisen-, Aluminium und Betonfragmenten ein ebenso schlichtes wie beeindruckendes Monument geschaffen. Julius Meimberg zögerte trotz seiner 91 Jahre nicht, als Werner Paa ihn fragte, ob er die Reise aus dem westfälischen Münster ins Nördlinger Ries auf sich nehmen wolle, um an der Einweihung des Denkmals teilzunehmen.
Es hat sich gelohnt. Wuchtig ragt der tonnenschwere Betonquader aus scheinbar unberührter Idylle ins Land, flankiert von einem Kreuz aus Eisenbahnschienen. Er spricht, auch nachdem alle Reden verklungen sind. Wer Ohren hat, der höre. –