Zum Tod von Julius Meimberg

Es ist natürlich Zufall, daß noch vier seiner früheren Flugzeugführer am Leben sind, und doch hat es Symbolkraft: Fragt man Günter Seeger, Hubert Greim, Gerhard Schiller und Peter Birnbach, was für ein Vorgesetzter ihr Gruppenkommandeur Julius Meimberg war, so heben sie unabhängig voneinander seine Fürsorge hervor. ‚Jule’ Meimberg ging nicht über Leichen, selbst dann nicht, als es die höhere Führung von ihm verlangte. Von zwei Lazarettaufenthalten wegen schwerer Verwundungen abgesehen, flog er ab Mai 1940 bis zum letzten Kriegstag an der Front und schonte sich dabei nicht. Auch von seinen Männern verlangte er unbedingten Einsatzwillen. Sie waren Jagdflieger und hatten geschworen, in einem erbarmungslosen Kampf ihre Leben zum Schutz von Kameraden und Zivilbevölkerung in die Waagschale zu werfen. Als jedoch offenbar war, wie diese Bereitschaft zu sterben mißbraucht wurde, ging der Major Meimberg dagegen vor: Selbstmordeinsätze? Nicht mit seinen Leuten. Und seine Leute würden auch keinen Gegner am Fallschirm erschießen, obwohl der Korpskommandierende es verlangte.

Bis zuletzt quälte ihn die Frage, ob er in jenen fünf Kriegsjahren mehr Menschenleben gerettet als vernichtet hat; ob seine 59 Abschüsse, für die er das Ritterkreuz erhielt, vielleicht doch einen Sinn, einen Wert besaßen, obwohl er sie unter dem Befehl eines Verbrecherregimes erzielt hatte. Er sprach nicht viel und nicht mit jedem darüber, aber es trieb ihn um. Manchmal sah man ihm nur an, daß ihn dieser Gedanke zerfraß — so etwa, als wir an einem herrlichen Sommertag von seiner Heimatstadt Münster nach Duxford flogen und er immer stiller nach unten und in den Himmel starrte, je näher wir seinen alten Jagdgründen am Ärmelkanal, über Kent und Sussex kamen.

Nach dem Frankreichfeldzug, der wie im Rausch vorübergegangen war, hatte hier alles für ihn angefangen: Die ersten harten Luftkämpfe über dem Kessel von Dünkirchen als Kaczmarek von Assi Hahn, die Schlacht um England, ein Blutbad für nichts und wieder nichts. Er wurde Staffelkapitän in seinem Geschwader, dem JG 2 ‚Richthofen’. Eine Notlandung in der Bretagne überlebte er, aber der dienstverpflichtete Gynäkologe, der sich danach an seinem zertrümmerten linken Bein versuchte, hinterließ bleibende Spuren. Zehn Monate später flog er wieder. Als er über dem Kanal auf die ersten amerikanischen Viermots traf, war ihm klar, was diese Bomberpulks für sein Heimatland bedeuten würden. Er entwickelte die Taktik, sie frontal anzugreifen, und erntete zunächst Kopfschütteln dafür. Anderthalb Jahr darauf wurde sie Vorschrift.

Auch das hat er nur im Lazarett erlebt. Im November 1942 war er mit seiner Staffel nach Tunesien befohlen worden, um den Rückzug des zusammenbrechenden Afrikakorps aus der Luft zu sichern. Im Luftkampf mit B-17 über der Wüste abgeschossen, gelang ihm erst in letzter Sekunde der Absprung aus seiner lichterloh brennenden Me 109. Wochenlang kämpften die Ärzte um sein Leben und versuchten danach mühsam, in einer Spezialklinik sein Äußeres wiederherzustellen. Noch immer schwer gezeichnet, wurde er im August 1943 zum Stab des JG 52 nach Neapel versetzt, wo ihn Johannes Steinhoff traf und erschaudernd sagte: „So wie der Meimberg möchte ich nicht irgendwann mal aussehen. Ich fliege ab jetzt nur noch mit Lederjacke und Handschuhen…”

Als Julius Meimbergs verbrannte Hände wieder ein Jagdflugzeug steuern konnten, wurde er Kommandeur der II. Gruppe seines neuen Geschwaders. Die Alliierten landeten in der Normandie. Meimberg kämpfte nicht nur gegen deren Übermacht, sondern auch gegen seinen Jagdfliegerführer, der ihm befahl, seine jungen Piloten über Cherbourg zum Paradefliegen zu schicken, „…um die Moral der kämpfenden Bodentruppe zu stärken.” Der Mann, das sei nebenbei bemerkt, wurde später langjähriger Oberbürgermeister einer bundesdeutschen Großstadt und konnte herrliche Anekdoten aus seiner Luftwaffenzeit erzählen. Nachdem der Gegner bald bis an die Reichsgrenzen vorgestoßen war, verlegte Julius Meimberg mit seinen Staffeln in den südwestdeutschen Raum. Hier hatte er vor allem amerikanische Jagdbomber zu bekämpfen, wurde aber auch immer wieder zur Abwehr von Großangriffen der 8th USAAF eingesetzt. Dreimal noch mußte er mit dem Fallschirm abspringen. Der Zweite Weltkrieg endete für ihn und seine Gruppe im April 1945 im Allgäu.

Danach ging Julius Meimberg in die Textilindustrie und entwickelte dort als Freiberufler unter harten Entbehrungen das Rotor-Spinnverfahren, eine Methode zur Herstellung endlosen Baumwollgarns, die seither als Meimberg-Verfahren den Standard der Branche darstellt. Die Rudolf-Diesel-Medaille, mit der er 2001 für seine Erfindung geehrt wurde, bedeutete ihm erheblich mehr als seine militärischen Auszeichnungen. Als radikaler Kriegsgegner mied er öffentliche Auftritte, die er im Verdacht des Heldenkults hatte. Um so mehr bemühte er sich um die Aussöhnung mit seinen ehemaligen französischen, britischen und amerikanischen Gegnern. Ihr widmete er auch seine Erinnerungen unter dem Titel ‘Feindberührung’, über die es in der englischen Presse hieß: „It is the unprecetended honesty which should earn this book a well-deserved place among the minority of World War II memoirs which are held in equally high regard by both historians and literary critics.”

Johannes Steinhoff und Günther v. Maltzahn — sein ehemaliger Kommodore — versuchten, ihn für die Bundesluftwaffe zu gewinnen und sahen ihn an der Spitze eines neuen Richthofen-Geschwaders, aber diese Pläne wurden nach Maltzahns frühem Tod durch dessen Nachfolger an der Spitze der Personalabteilung hintertrieben. Julius Meimberg, ein Truppenführer von hohen Graden, blieb in der Textilbranche — „Der größte Jagdflieger unter den Spinnern”, wie er es auf den Punkt brachte, „aber nicht der größte Spinner unter den Jagdfliegern.” 2010 wurde ihm die Goldene Ehrennadel der Gemeinschaft der Flieger verliehen.

Was bedeutete dieser ungewöhnliche Mann jenen, die ihn näher kannten? Er stand wie kaum ein anderer für die Tugenden, die man den Westfalen zuschreibt: Treue zu Menschen und Grundsätzen, Bodenständigkeit, Ehrlichkeit. Er fühlte sich für sein Leben verantwortlich und hätte nichts von dieser Verantwortung je preisgegeben. Der Gedanke, seine Handlungsfreiheit zu verlieren, war ihm ein Greuel. Als sein Alter ihm unmißverständliche Signale sandte, daß er nur noch in der Fürsorge anderer weiterleben könne, hat er nüchtern die Alternative durchdacht und schließlich vorgezogen — gelassen und mit jenem trockenen Humor, gegen den selbst der Tod machtlos ist. Wir verneigen uns vor einem großen Soldaten, einer großen Persönlichkeit. Eine Woche nach seinem 95. Geburtstag, am 17. Januar 2012, hat uns Julius Meimberg verlassen. Seine Freunde bat er schriftlich „…um gütige Nachrede.”

Was sonst, Jule. —