Endlich. Jochen Missfeldt bei NeunundzwanzigSechs.

Fliegerhorst Leck, im Frühjahr 2012.

Es war in einer Nacht des Jahres 1976. Ich hatte es mir auf dem engen Platz des Battery Control Officers bequem gemacht, im Nacken den heißen Atem des Feuerleitrechners, vor mir die Apparatur für den Abschuß der 21 Nike Hercules-Raketen, von denen sieben mit Atomsprengköpfen bestückt waren. Schichtdienst in der Luftwaffe des Kalten Krieges. Ich wartete auf den Russen, aber der Russe kam nicht. Man sah ihn auf dem Radarschirm über der DDR herumfliegen, der sogenannten: kleine gelbe Punkte, die höhnisch aufglommen, wenn sie vom Drehstrahl der Antenne überwischt wurden. Der Russe kniff. Er wußte wohl, wessen Hand hier entschlossen über den Knöpfen schwebte.

Nicht lange, und der Russe hatte gewonnen. Meine Hand entschwebte zu dem kleinen, tragbaren Fernseher, den wir verbotenerweise immer dabeihatten, und wählte das Erste Programm. Da lief um diese späte Zeit Erstaunliches.

‚Überflug’ hieß das Feature. „Jochen Missfeldt, Major, Phantom-Pilot”, begann der Sprecher, „über die Bundesrepublik fliegen von Norden nach Süden mit achthundertdreißig Sachen an einem Tag im Februar…” Der Major Missfeldt steuerte eine RF-4E Phantom von Leck nach Bremgarten, einmal längs durch die linke Hälfte unseres geteilten Landes. Klick-klick-klick machten die Kameras im Bauch seiner Maschine: über der Vogelwarte im Watt, der Zeitungsfrau auf dem platten Land, der psychiatrischen Klinik im Westerwald, der pfälzischen Schule, in der Tertianer über Abtreibung diskutierten. Die Schnitte wechselten vom Flugzeug zum Geschehen am Boden und zurück, eine geniale Momentaufnahme deutscher Befindlichkeit insgesamt, unterlegt mit Missfeldts lässig-spröden, treffenden Aperçus. Wäre der Russe in dieser Stunde gekommen — er hätte mich kalt erwischt. Alle meine Sinne waren auf diesen Mann und seinen Flug gepolt.

Wir lernten uns erst 34 Jahre später kennen, weil mir jemand angedeutet hatte: Der Jochen kann vielleicht was zu Ihrer Krupinski-Biographie beitragen. Da war er schon längst ein vielfach ausgezeichneter Autor. Das Deutsche Literaturarchiv in Marbach will sogar seine Fliegerkombi mit allem Drum und Dran von ihm haben. Das sagt mehr über die Anerkennung, die er erfährt, als all das Preisende in den Feuilletons. Wir sprachen über Walter Krupinski, übers Fliegen, übers Schreiben. Er habe da so eine Kiste zuhause, sagte er, in der seien seine Fliegergeschichten gesammelt, grober Zeitraum: von der Kuba-Krise bis zum Afghanistan-Einsatz der Luftwaffe. Das meiste davon habe er selbst als Flugzeugführer erlebt, einiges als Mitflieger, einiges als Beobachter. Ob ich mal einen Blick da hinein werfen wolle?

Gerade ist ein weiteres NeunundzwanzigSechs-Buch daraus entstanden: 23 packende, meisterhafte Reportagen aus den Luftwaffen-Cockpits der letzten fünf Jahrzehnte.

Jochen Missfeldt hat die gesamte Erstauflage handsigniert.

Kurt Braatz

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