Allegro am Himmel. Zum Tod von Walter Wolfrum.

Peter Cronauer und Walter Wolfrum.

Er zählte zu den Stillen im Lande, obwohl er mehr hätte berichten können als viele Andere. Walter Wolfrum, groß und ungebeugt auch noch im Alter, mied öffentliche Auftritte, wenn sie ihm Selbstdarstellung und rhetorisches Feuer abverlangten. In der Flut immer flacherer Fernsehdokumentationen zur Geschichte des 20. Jahrhunderts, die seit Jahren über uns hinwegrollt, sucht man seinen markanten Kopf und sein fränkisches Idiom vergeblich. Er war kein Dauergast auf Podien oder in Signierstunden, von Veteranentreffen ganz zu schweigen. Walter Wolfrum war Künstler, und wie jeder ernsthafte Künstler suchte er seinen Ausdruck nur in seiner Kunst, nicht im Geschwätz.

Wolfrums Kunst war das Fliegen. Der Kunstflug.

Seine Meisterstücke sind uns als Aresti-Piktogramme erhalten geblieben: ein scheinbares Wirrwarr merkwürdiger geometrischer Figuren auf vergilbtem Papier, gerade groß genug, um ans Instrumentenbrett einer Wettkampfmaschine geklemmt zu werden. Wer diese Notation des Kunstflugs zu lesen versteht und weiß, auf welchen Instrumenten Walter Wolfrum seine Stücke spielen mußte, kann nur staunen. Er hatte ein unglaubliches Gefühl für die Möglichkeiten und Grenzen seiner Flugzeuge. Die Programme, die er mit ihnen flog, schöpften ihr Leistungsvermögen bis ins Letzte aus und vermieden elegant ihre Schwächen, stets mit dem Willen zu einem Ganzen in Harmonie und Rhythmus. Heute, in der Zeit der Kohlefaser-Tragflächen, der überbordenden Triebwerksleistung und der gyroskopischen Manöver, mag man über ein solches Fünf-Minuten-Allegro achtlos hinweggehen. Aber heute ist Kunstflug bloße Demonstration von Kraft, Agilität, Belastbarkeit; damals, in Walter Wolfrums großer Zeit zwischen 1960 und 1985, war Kunstflug noch Ästhetik, und seine Komponisten schrieben Menuette über die Schönheit des Fliegens.

„Wir haben die Kunst, damit wir nicht an der Wahrheit zugrunde gehen,” hat Friedrich Nietzsche einmal formuliert. Als Walter Wolfrum Ende der 1940er Jahre zum Kunstflug fand, hatte er die schonungslose Konfrontation mit der Wahrheit knapp überlebt. Er war Jagdflieger im Zweiten Weltkrieg gewesen, ein überaus erfolgreicher: Staffelkapitän mit ganzen 21 Jahren, 137 Abschüsse, Ritterkreuz. Das waren die äußerlichkeiten. Alles Inwendige, das er aus diesen Jahren mit sich trug, verschloß ihm den Mund. Es ist Peter Cronauer, seiner Sensibilität und seiner Geduld zu verdanken, daß dieser so großartige und bescheidene Flieger doch noch dazu bewogen werden konnte, seine Erinnerungen niederzuschreiben. Als Autor, Herausgeber und Verleger nach einem Titel für die Autobiographie suchten, sagte einer: Unbekannte Pflicht. Walter Wolfrum verhielt eine Weile, schien in sich hineinzuhorchen — und nickte den Einfall schließlich wortlos mit seinem charakteristischen, feinen Lächeln ab.

Anfang 2009 war das gewesen. Vital wie er war, dachten wir damals, daß wir noch viele gemeinsame Stunden auf der Terrasse seines Hauses oder am Tisch einer Fliegerkneipe mit Blick aufs Rollfeld verbringen würden. Seine Zurückhaltung schien ihm zwar angeboren, aber er konnte im kleinen Kreise guter Freunde ein fröhlicher, von jungenhaftem Witz überschäumender Unterhalter sein.

Es blieb ihm viel weniger Zeit, als alle glaubten. Am 26. August 2010 ist Walter Wolfrum verstorben. Der Tod klopfte nicht einmal an; wie ein Dieb hat er ihn mitten aus seinem 88. Lebensjahr gerissen.

Kurt Braatz