Das Unbekannte und die Pflicht
Diskussion über das Vorwort zu ‚Unbekannte Pflicht’. V. l. n. r. Günther Rall, Kurt Braatz, Peter Cronauer und Walter Wolfrum.
Es war einer jener vollkommenen Sommertage des Jahres 2009, die uns unauslöschlich im Gedächtnis bleiben: Tage voller satter Farben, Vogelgezwitscher und Blütenduft, an denen sich jeder ins Freie sehnt. Walter Wolfrum und Peter Cronauer hatten das Manuskript zu ‚Unbekannte Pflicht’ gerade fertiggestellt, und nun ging es noch um das Vorwort, das Günther Rall zu den Erinnerungen seines Geschwaderkameraden beisteuern wollte – eine willkommene Gelegenheit, sich bei ihm in Bad Reichenhall zu treffen, damit alles Notwendige besprochen und abgehakt werden konnte.
So verbrachten wir den ganzen Nachmittag um den eisernen Gartentisch: die beiden Jagdflieger, der Herausgeber und der Verleger der jüngsten NeunundzwanzigSechs-Biographie. Das Schreibzeug und die Blätter mit den Stichworten blieben in den Taschen, das hätte alles nur den freien Fluß der Gedanken und Erinnerungen gestört. Lediglich ein unauffälliges Aufnahmegerät hielt fest, was die beiden alten Adler über jene Zeit von Februar 1943 bis April 1944 lebendig werden ließen, in der sie beide beim JG 52 am Südabschnitt der Ostfront flogen: der eine als 19jähriger Neuling, der fast an seiner Erfolglosigkeit verzweifelt wäre, der andere bereits hochdekoriert und mit einer Abschußliste, die sich fast täglich verlängerte.
Am 04. Oktober 2009 um 13:00 Uhr – ‚Unbekannte Pflicht’ befand sich gerade im Druck – ist Günther Rall verstorben.
Manchmal streifte er im Gespräch das Ende. Eher nebenbei, weil er sich nicht gerne mit Unabänderlichem aufhielt, sondern ein Leben lang lieber seine Gestaltungsspielräume suchte. Er warf dann lässig hin, daß er auf dem ‚final approach’ sei oder sprach ein wenig sarkastisch vom ‚aufamseln’, und damit hatte es sich. Verzagtheit vor der letzten Stunde kannte er nicht, denn seit seiner Jugend waren ihm so viele Freunde und Kameraden genommen worden, daß er sich immer verwunderter, ja zunehmend verstört fragte, was der Herrgott eigentlich auf dieser Erde noch von ihm erwarte. Uns so tat er, was er für geboten erachtete, mit jener Mischung aus Disziplin, Energie und unerschütterlicher Menschenfreundlichkeit, die so vorbildlich an ihm war. Obwohl seit Jahrzehnten ganz auf sich gestellt, führte er ein gastliches Haus. Er gab die Erfahrungen seiner 91 Lebensjahre weiter, ohne je belehrend zu wirken, liebte leidenschaftliche Debatten, stand als Zeitzeuge Rede und Antwort, blieb seinem Beruf aufs Engste verbunden und pflegte alte wie neue Freundschaften.
In letzter Zeit hatte er ein wenig kürzer getreten, aber gerade war er wieder aus den USA zurückgekehrt von einer Reise, die ihm viel bedeutete: Noch einmal mit Shortie Rankin zusammentreffen, der ihm am 12. Mai 1944 über dem Taunus seinen linken Daumen vom Gashebel seiner Me 109 weggeschossen hatte; noch einmal mit Bud Anderson, der im Zweiten Weltkrieg zu den Besten auf der P-51 Mustang zählte, an einer flight line entlangschlendern; noch einmal einem staunenden jungen Publikum demonstrieren, daß nicht der Krieg der Vater aller Dinge ist, sondern nur der Frieden Bleibendes schafft. Er machte keine großen Worte darum. Er wußte, daß allein das Beispiel wirkte – das Beispiel von Männern, die sich einst im Kampf begegnet waren und es als Glück ihres Lebens begriffen, damals nicht gut genug geschossen zu haben.
„Die mich für meine 275 Abschüsse bewundern, wissen nichts vom Krieg“, schloß er seine Erinnerungen unter dem Titel ‚Mein Flugbuch’. „Sie wissen nicht, was es für ein ganzes Menschenleben bedeutet, daß man in jungen Jahren töten mußte, um selbst nicht getötet zu werden. Sie kennen die Scham und die Trauer des Überlebenden nicht. Der Krieg ist nicht die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln, sondern eine Schande; er ist der völlige Bankrott politischen Handelns.“
Sein Tod traf ihn aus heiterem oberbayerischem Himmel. Morgens noch ein launiges Telefongespräch mit Wolfgang Czaia und Kurt Braatz, die er zum Mittagessen erwartete – und als die beiden Freunde kaum zwei Stunden später eintrafen, war er bereits unter Intensivbehandlung, ohne wieder zu erwachen. Sein starkes Herz schlug noch zwei volle Tage. Humorvoll, wie er war, hätte er das wahrscheinlich eine ganz ordentliche Kurzlandung genannt, wenn auch ein wenig unterm Gleitpfad.
Er zählte zu den unabhängigen und skeptischen Köpfen seiner Generation: der Generation jener, die von ihren Eltern in den Zweiten Weltkrieg geschickt worden waren und die das 20. Jahrhundert nach 1945 entscheidend prägten. Kaum 22jährig, wurde er Staffelkapitän und trug damit Verantwortung für mehr als 100 Mann, nachdem sein Vorgänger in der Luftschlacht um England gefallen war. Anderthalb Jahre darauf erlitt er selbst einen dreifachen Bruch der Wirbelsäule, als er über der Sowjetunion abgeschossen wurde. Günther Rall hätte auf einer bequemen Stabsstelle weiterdienen können, kehrte aber nach langwieriger Genesung an die Front zurück, weil er die Soldaten nicht alleinlassen wollte, die seinem Befehl anvertraut waren. Er bezwang 275 Gegner und wurde dafür hoch ausgezeichnet. Gleichzeitig ermittelte die Militärjustiz gegen ihn, weil seine Frau einer Reihe jüdischer Freunde 1938 zur Ausreise nach England verholfen hatte. Während des Krieges mußte er achtmal notlanden oder mit dem Fallschirm abspringen. Er kam schließlich in amerikanische Gefangenschaft und schaffte danach den Aufbau einer zivilen Existenz.
Als ihn das ‚Amt Blank’ zehn Jahre später bedrängte, wieder Soldat zu werden, war Günther Rall in der Leitung der Schloßschule Salem am Bodensee tätig und zögerte lange mit seiner Zusage. Er gab sie letztlich in der Überzeugung, daß die Bundesrepublik Deutschland als Teil eines westlichen Bündnissystems gegen neue militärische Abenteuer gefeit sei. 1956 trat er in die Bundeswehr ein, wurde in den USA zum Jetpiloten ausgebildet und erhielt die Projektleitung für das heikelste Vorhaben der neuen Armee: die Einführung des Waffensystems F-104 Starfighter. Technologisch und fliegerisch jenseits der Grenze dessen, was die junge Luftwaffe verkraften konnte, stürzte der Starfighter das Land in eine seiner schwersten politischen Krisen. Günther Rall trug maßgeblich dazu bei, die verheerende Unfallserie mit dem neuen Flugzeug zu stoppen: zunächst an der Seite des damaligen Luftwaffen-Inspekteurs Johannes Steinhoff und ab Januar 1971 als dessen Nachfolger. Nach zwei Jahren an der Spitze der Luftwaffe wurde er als Ständiger Vertreter der Bundesrepublik in den Militärausschuß, das höchste militärische Entscheidungsgremium der NATO nach Brüssel berufen. Dort trat er ohne öffentliches Geräusch, aber entschieden und wirkungsvoll für die Entspannungspolitik seiner Regierung ein. Im Oktober 1975 ging Günther Rall als Generalleutnant in den Ruhestand.
Die Versuchung, weiterhin in Tagesfragen der Verteidigungspolitik mitzumischen, hat er nie verspürt. Der weiteren Expansion der NATO und ihrem Engagement außerhalb ihres Vertragsgebiets begegnete er jedoch so besorgt, daß er sich zum NATO-Gipfel 2009 in Baden-Baden mit einem Interview in der Süddeutschen Zeitung zu Wort meldete, in dem er eindringlich auf seine Kriegserfahrungen verwies. Das brachte ihm Respekt in allen politischen Lagern. Am meisten aber hat ihn der herzliche, zustimmende Brief gefreut, den er daraufhin von Helmut Schmidt erhielt. Der langjährige Bundeskanzler war einst als Verteidigungsminister sein Vorgesetzter gewesen.
Mit Schmidt verband ihn viel. Da ist zuerst die Loyalität zu seinem Vaterland zu nennen – eine Loyalität, die ihm vor allem im Ausland viel Achtung einbrachte, weil sie stets offen blieb für die Interessen anderer und ihre Argumente. Nicht minder überzeugte er durch sein klares Bekenntnis zur westlichen Wertegemeinschaft gerade dort, wo er fand, daß diese Werte standhaft gegen einen gewissen Relativismus geschützt werden mußten, und schließlich beeindruckte er bis ins hohe Alter durch seine Pflichtauffassung. „Klar und fordernd in seinen Zielen“, betonte Generalleutnant Klaus-Peter Stieglitz, der Inspekteur der Luftwaffe, in seiner Trauerrede, „hat er sich dabei selbst immer mit all seiner Tatkraft und Energie für die Luftwaffe und ihre Menschen eingesetzt. Was er forderte, das lebte er vor. Als Inspekteur definierte er Strecken und stellte Weichen, die zum Teil auch heute noch Einfluß auf die Auftragserfüllung unserer Luftwaffe haben. Auch als Inspekteur im Ruhestand hat er die Verbindung zu seiner Luftwaffe gepflegt. Er ist mir und sicher auch vielen anderen als stets kundiger, kritischer und sehr eloquenter Redner, vor allem aber durch seine herzliche und Andere gewinnende Art von vielen Veranstaltungen in guter Erinnerung. Hervorheben möchte ich an dieser Stelle ganz besonders sein Engagement für unsere jungen Kameraden: Er hat es sich nie nehmen lassen, Offizieranwärtern der Luftwaffe als Gesprächspartner zur Verfügung zu stehen und sie an seinen vielfältigen Erfahrungen teilhaben zu lassen. Daß sie ihn im Jahr 2002 zum Mentor des 89. Offizierlehrganges ausgewählt haben, zeigt für mich, welch hohen Stellenwert die generationsübergreifende Kommunikation in unserer Luftwaffe besitzt.“
Wohl selten ist das Leben eines deutschen Soldaten auch international so bewegend in Nachrufen gewürdigt worden. Hervorgehoben seien hier nur die ganze Seite, die der Londoner ‚Daily Telegraph’ Günther Rall widmete, sowie die Beiträge in der ‚Times’ und im ‚Wall Street Journal’. Aber mehr noch als dies wiegt vielleicht die Tatsache, daß die russischen Luftstreitkräfte unter den Ersten waren, die den Hinterbliebenen ihres ehemaligen Gegners kondolierten.
„Wir verneigen uns vor einem großen Soldaten“, schloß der Inspekteur in der evangelischen Stadtkirche von Bad Reichenhall. „Wir trauern um eine bedeutende Persönlichkeit, einen guten Kameraden, einen herausragenden Luftfahrzeugführer. Sein Name und sein Schaffen bleiben in der Geschichte der Luftwaffe der Bundesrepublik Deutschland und in der NATO unvergessen. Günther Rall hat sich um Deutschland, die Bundeswehr und die Luftwaffe verdient gemacht.“