Der Neue
Es war fast auf den Tag vor neun Jahren, im August 2002. Skeptisch kreisten wir mit der Mooney über der kurzen, buckligen Graspiste von Old Warden in der Grafschaft Bedfordshire nördlich von London. Quer durch die Landebahn: ein Feldweg, über den gerade ein Traktor tuckerte. Für einen Augenblick fragte sich wohl jeder im Cockpit, wie wir auf die Schnapsidee hatten kommen können, ein derart fragiles Flugzeug für diesen Trip zu wählen. Es half nur nichts; wir mußten ’runter. Von Landshut über Münster-Telgte nach Bonn-Hangelar, schließlich zwischen Calais und Dover über den Kanal und in weitem Bogen östlich um den überlasteten Luftraum der englischen Metropole herum: es wurde Zeit, zu landen.
Erwartet wurden wir außerdem. Die Shuttleworth Collection hatte zu ihrem großen Sommerflugtag auf dem schnuckeligen Platz geladen und bei der damaligen Gemeinschaft der Jagdflieger nach einem Battle-of-Britain-Veteranen gefragt, der zu dem Großereignis kommen wolle. NeunundzwanzigSechs-Autor ‚Jule’ Meimberg wollte. Am liebsten direkt und auf dem Luftweg. Und am liebsten mit mir und „…mit Willi.”
Raus aus dem Vollkreis und rein in die Platzrunde. Ich reduzierte Ladedruck und Drehzahl, dachte an nichts als an Fahrt, Sinkrate und Final Checks: Gas — Undercarriage — Mixture — Prop — Pump. Mit 75 Knoten rauschte die Mooney über den Zaun und setzte sich hin, rumpeldipumpel, Steuer schön gezogen halten, damit der Propeller bei diesem Wellengang nicht ins satte englische Grün säbelte, gottlob zuckelte keiner mehr in den Querweg hinein — Stillstand. Durchatmen. Fenster auf.
Das war der Augenblick, in dem mir Oberst a. D. Wilhelm Göbel auf dem rechten Sitz das Du anbot.
Willi Göbel ist Jagdflieger. Er kann nicht anders, selbst heute noch, jenseits der Siebzig und in vergleichsweise harmlosem Fluggerät. Zu seiner langen Luftwaffen-Laufbahn, die 1960 begann, gehören zwar auch Jahre als Kommodore eines Jagdbomber-Geschwaders, aber da wird er einsilbig. Er hatte schon als Leutnant das Ziel, „…mit dem G-Suit aus der Wache rauszumarschieren, wenn ich in Pension gehe”, und das ist ihm fast gelungen. Damals gehörte er zu den ersten, die in den USA auf der F-104 G ausgebildet worden waren. Er hat die Starfighter-Krise als Pilot beim JG 71 Richthofen in Wittmund erlebt und es auf 4.800 Flugstunden gebracht, davon 4.400 auf der F-104, der F-4 Phantom, dem Tornado und anderen Jets. Zum Drumherum gehören Flug- und Waffenlehrberechtigungen sowie unzählige Zahlen, Fakten, Daten und Anekdoten, die sein Elefantengedächtnis gleichsam auf Knopfdruck preisgibt. Nicht nur zur Bundesluftwaffe, sondern über die gesamten rund 100 Jahre deutscher Militärluftfahrt.
Kein Wunder, daß ihm diese Leidenschaft und seine unbestechliche Objektivität schon vor Jahren das Ehrenamt des Historikers der Gemeinschaft der Flieger deutscher Streitkräfte eintrugen. Dort schreibt er zwar keine dicken Bücher — Jagdflieger tun so etwas nicht —, aber er forscht wie ein Studierter und ist so freigiebig mit seinem Wissen wie nur wenige in dieser Zunft. Nun allerdings hat er sich doch überreden lassen, größere Mengen Papier zu produzieren. Er ist Mitherausgeber der Tagebücher von Günther Josten, die gerade bei uns erschienen sind. Nicht von ungefähr — der hochdekorierte Kriegsflieger war mehrere Jahre sein Vorgesetzter in Wittmund gewesen; Willi Göbel hat erlebt, wie Josten das Geschwader ohne Rücksicht auf seine eigene Karriere und mit sicherer Hand durch die schlimmste Unfallserie manövrierte, die eine Luftwaffe je in Friedenszeiten erlebte.
Kurt Braatz